Spielen wir nicht alle unsere Rollen, jeden Tag? Tagein, tagaus entsprechen wir Erwartungen im Job, erfüllen manches Klischee, erfüllen unsere diversen sozialen Rollen, um anderen zu gefallen, sie zu provozieren oder beachtet zu werden – je nach Bedarf. Aber ist das alles noch echt oder schon eine faustdicke Lebenslüge? Kein Wunder, dass da in Vielen die Sehnsucht nach Authentizität wächst, der Wunsch die Masken abzunehmen, echt zu sein – authentisch eben. Aber geht das überhaupt – und wenn ja wie?
Das Internet macht das Dilemma nicht unbedingt lösbarer. Es erlaubt uns die Anonymität ebenso wie eine Art digitales Spiel aus den verschiedenen Facetten unserer Persönlichkeit: Auf Facebook der spannende Vamp oder der tolle Kumpel mit dem aufregenden Partyleben, auf Xing/Linkedin ganz Profi: professionell und seriös.
Egomarketing ist ein deutlicher Trend.
Der eigene Ruf, das virtuell designte Image wird für den Erfolg immer wichtiger und die Optimierung des Selbst und der passenden Fassade dazu avanciert zum wichtigen Karrierefaktor.
Oft ist das, was dabei herauskommt, sogar perfekter als das Original. Das wirft Fragen auf:
- Was davon ist dann noch real?
- Wie lange bleibt derjenige, der so handelt, selbst noch echt?
- Wo endet die noch zulässige Eigenwerbung und wo beginnt der opportune Bluff?
„Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu.
Du machst hier bald mit einem Bekanntschaft,
den ich genauso wenig kenne wie du.“
Das singen Udo Lindenberg und Jan Delay in ihrem Hit “Ganz anders”. Die erste Hälfte des Zitats stammt eigentlich auch von jemand ganz anderem: dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller Ödön von Horváth und seinem Werk “Zur schönen Aussicht”. Hinter der Aussage steckt der Wunsch, sich selbst besser zu (er)kennen sowie die Sehnsucht nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit – nach Authentizität eben.
Entsprechend ist kaum ein Begriff in der letzten Zeit so oft erwähnt und erwünscht worden, wie der, authentisch zu sein. Allein Google findet dazu inzwischen mehr als 4 Millionen Einträge, vor 5 Jahren waren es erst 1,5 Millionen Treffer. So groß ist die Sehnsucht nach dem Echten heute.
Tatsächlich empfinden viele ihr Gegenüber schon dann als glaubwürdig, wenn sich der- oder diejenige ihren eigenen Vorstellungen entsprechend verhält. Menschen mit Ecken und Kanten dagegen sind latent verdächtig, etwas im Schilde zu führen. So kommt es zu der grotesken Situation, dass am Ende diejenigen als besonders authentisch empfunden werden, die ihre Rolle besonders überzeugend spielen.
Unsere Persönlichkeit ist allerdings kein zementierter Zustand. Vielmehr verändern wir unsere Identität im Schnitt alle 20 Jahre, so jedenfalls das Ergebnis einer Studie von Margaret King und Jamie O’Boyle. Danach liegen die typischen Anpassungsphasen in etwa im Lebensalter zwischen 15 und 20, 35 bis 40, 55 bis 60 sowie über 75 Jahren.
Der abgeschlossene, fertige Mensch, der so ist, wie er ist, ist also eine Illusion.
Was ist denn nun Authentizität?
Das griechische Wort für Authentizität („authentikós“) setzt sich aus den Worten „autos“ („selbst“) und „ontos“ („seiend“) zusammen und kann somit als „selbstseiend“ übersetzt werden (Kaegi, 1962). Authentisch zu sein bedeutet gemäß seinem wahren Selbst, d.h. seinen Gedanken, Emotionen, Bedürfnissen, Vorlieben und Überzeugungen zu handeln und sich dementsprechend auszudrücken (Harter, 2002).
Die vier Kriterien der Authentizität
Allerdings ist es auch so, dass sich Authentizität in gewisser Weise messen oder zumindest etwas genauer bestimmen lässt. Die Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman unterscheiden hier vier Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit wir uns selbst als authentisch erleben:
- Bewusstsein. Wir müssen unsere Stärken und Schwächen ebenso kennen wie unsere Gefühle und Motive, also warum wir uns so oder so verhalten. Erst durch diese Selbstreflektion sind wir in der Lage unser Handeln bewusst zu erleben und zu beeinflussen.
- Ehrlichkeit. Leider neigen wir Menschen dazu, uns schöner zu sehen als wir sind. Sogar sprichwörtlich. Wer authentisch sein will, muss der Realität ins Auge blicken und auch unangenehme Rückkopplungen – seien sie optisch oder verbal – akzeptieren.
- Konsequenz. Wer Werte hat, sollte danach handeln. Das gilt auch für einmal gesetzte Prioritäten oder für den Fall, dass man sich dadurch Nachteile einhandelt. Kaum etwas wirkt verlogener und unechter als ein Opportunist.
- Aufrichtigkeit. Natürlich lässt sich über eine gewisse Zeit hinweg ein geschöntes Bild aufrechterhalten. Ein bisschen Show muss sein. Aber nicht, wenn es um Authentizität geht. Wer wahrhaftig sein will, muss die Größe zeigen, auch seine negativen Seiten zu offenbaren.
Die Sache hat aber einen Haken
Authentizität per se adelt den Büroautisten genauso wie den Despoten – Hauptsache echt. Sie verklärt den berechnenden lauten Egoisten zum mutigen Haudegen und den ewig nörgelnden Nihilisten zum wertvollen Intellektuellen. Die sind halt so – aber wenigstens stehen sie dazu und bleiben sich treu… Toll.
Was kann der Pitbull schon dafür, dass er alle beißt? Aua!
Authentizität beginnt immer bei sich selbst. Wer versucht, Rollen und Klischee zu entsprechen, bewegt sich davon schon weg, ist zwar vielleicht beliebt, aber häufig auch opportun und unecht.
Aus der Zwillingsforschung ist heute bekannt, dass die Gene höchstens 20 bis 50 Prozent Einfluss auf den Charakter eines Menschen nehmen. Der Rest ist freier Wille. Oder mit den Worten Epikets (eines meiner Lieblingszitate):
„Mache dir selbst zuerst klar, was du sein möchtest;
und dann tue, was du zu tun hast.“
Nicht das Authentische verdient unsere Bewunderung, sondern die Gabe, echte Werte zu erkennen, zu bewahren und zu leben. Nicht wer man heute ist, ist das Ziel, sondern wer man sein möchte – und das möglichst in einer besseren Version als die aktuelle.
Wer Fehler macht, diese erkennt, kann sich anpassen und verändern – und dennoch authentisch bleiben. Das ist kein Widerspruch, im Gegenteil: Die Veränderung des Denkens und Handelns ist ebenfalls Teil der echten Persönlichkeitsentwicklung. Und ein wesentlicher Charakterzug der Authentizität.
Umgekehrt gilt aber auch: Wer nach dem Authentischen sucht, der muss ebenso bereit sein, Menschen mit Ecken und Kanten zu erleben, zu ertragen und mit ihnen zu leben. Derjenige muss bereit sein, andere Meinungen, anderes Denken und Handeln zu wertschätzen und darin – trotz aller Reibung – eine Bereicherung zu sehen, oder womöglich sogar gerade deswegen.
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